Pressekonferenz
08. Juni 2004

Jürgen Renn,
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin

Zwischen Politik und Wissenschaft:

Der Venustransit vor dem Einstein-Jahr 2005


Was ist der Zusammenhang zwischen Venustransit, Albert Einstein und einem Aufruf zu Frieden und weltweiter Verständigung?

Natürlich könnte ich Sie einfach auf die geplante große, von unserem Institut organisierte Einsteinausstellung verweisen, die im Frühjahr 2005 zu einem der Höhepunkte des Einstein-jahres werden soll. Aber dieses Projekt wird Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich vorgestellt werden.

Lassen Sie mich daher auf die Frage nach dem Zusammenhang des heutigen astronomischen Ereignisses mit einem Aufruf zum Einstein-Jahr antworten, in dem ich zunächst aus einem Dialog Arno Schmidts über den Venusdurchgang von 1769 unter dem Titel “Das schönere Europa” zitiere. Für Schmidt war der Venusdurchgang nicht nur ein astronomisches sondern auch ein politisches Ereignis. In seinem Dialog beschreibt er die damaligen Anstrengungen, über ein globales Netzwerk von Beobachtern eine internationale Kooperation zu organisieren. Ich zitiere (1):

... am großen Tage umspannte ein Netz von Observatorien den ganzen Erdball: auf achtzig Stationen mit insgesamt einhundertfünfzig Beobachtern ersten Ranges richtete man die Instrumente ein, in Astrachan und Peking nicht minder, als in Batavia oder Quebeck! ... ein volles Jahr vorher mußten manche der Gelehrten bereits aufbrechen, in den Nußschalen der damaligen Segelschiffe! Bahnten sich ihren Weg zwanzigtausend Kilometer weit durch heulende Indianerstämme, durch feucht-kalte oder -heiße Urwälder; über eisige Wildströme, durchfuhren im Schlitten die sibirischen Tundren; quälten sich ums Feuerland: und es waren zumeist nicht mehr die jüngsten; viele davon im Dienst der Urania ergraute Rauschebärte!

Damit begann für Arno Schmidt das, wie er schreibt, “unvergleichlich ehrwürdige und menschlich hinreißende Schauspiel der ersten weltumspannenden europäischen Gemeinschaftsleistung,” unternommen kurz nach den Verwüstungen des siebenjährigen Kriegs.

Doch aufklärerische Hoffnungen, daß solche globalen wissenschaftlichen Anstrengungen für alle Zukunft Maßstäbe setzen würden, erfüllten sich nicht. Kurz nachdem Albert Einstein 1914 aus der Schweiz nach Berlin berufen wurde, wo er seine allgemeine Relativitätstheorie vollendete, zerbrach der Erste Weltkrieg über Jahrzehnte und Jahrhunderte mühsam geknüpfte Bande internationaler wissenschaftlicher Kooperation.

Heute leben wir im Zeitalter der weltweiten Mobilität und der globalen Kooperation durch das Internet, aber auch weltweit verfügbarer Nuklearwaffen und des globalen Fernsehkrieges. Wissenschaftliche Kooperation ist ungleich viel einfacher und effektiver geworden, zugleich sind die Gefahren der einseitigen Vereinnahmung von Wissenschaft durch militärische und ökonomische Interessen unendlich gewachsen.

Dennoch hat Arno Schmidt recht: die Wissenschaft hat nicht nur die technische Entwicklung vorangetrieben, sondern hat auch – jedenfalls ihrer Möglichkeit nach – Maßstäbe für menschliches Zusammenwirken über die Grenzen von Nationen und Kulturen hinweg gesetzt. Alle großen wissenschaftlichen Leistungen sind in der Tat internationale Gemeinschaftsleistungen, auch wenn dies nicht immer so dramatisch sichtbar wird wie bei dem von Schmidt beschriebenen Unternehmen.

Sie, die Wissenschaft, und uns alle an dieses Potential und an diese Vorbildrolle zu erinnern, ist jedenfalls das Ziel des Aufrufs zu einem internationalen Einstein-Jahr im Zeichen der globalen Abrüstung und im Zeichen der weltweiten Zugänglichkeit wissenschaftlichen Wissens als Teil des Kulturerbes der Menschheit. Dieses Ziel schließt nach meinem Verständnis konkrete Forderungen nach einer Stärkung internationaler Institutionen wie dem Völkerrecht ebenso ein wie die nach einer freien Verfügbarkeit wissenschaftlichen Wissens im Medium der Zukunft, dem Internet.

Wer verkörpert dieses weltverbindende Potential von Wissenschaft, aber auch den mit ihm verbundenen Zwiespalt, besser als Albert Einstein? In einem für den Goethebund geschriebenen Manuskript mit dem Titel: “Meine Meinung über den Krieg” aus dem Jahre 1915 heißt es:

Es liegt mir ferne, aus meiner internationalen Gesinnung ein Geheimnis zu machen. Wie nahe mir ein Mensch oder eine menschliche Organisation steht, hängt nur davon ab, wie ich deren Wollen und Können beurteile. Der Staat, dem ich als Bürger angehöre, spielt in meinem Gemütsleben nicht die geringste Rolle; ich betrachte die Zugehörigkeit zu einem Staate als eine geschäftliche Angelegenheit, wie etwa die Beziehung zu einer Lebensversicherung. (Dass ich bestrebt sein muss, Bürger eines Staates zu sein, der mich voraussichtlich nicht zur Teilnahme an einem Krieg zwingen wird, versteht sich nach dem Gesagten von selbst.)

Obwohl Einstein 1914 am Vorabend des Ersten Weltkrieges dem Ruf nach Berlin folgte in der Hoffnung auf eine enge wissenschaftliche Zusammenarbeit mit den Kollegen von der Akademie und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ließ er sich von deren Kriegshysterie nicht mitreißen und unterstützte stattdessen Friedensinitiativen. Das Resultat war ein zwiespältiges, distanziertes Verhältnis zu diesen Kollegen, das von einem Rückgrat zeugt, das Wissenschaftler dringend benötigen und oft genug nicht besitzen. Und auch nach der spektakulären Bestätigung der von der Relativitätstheorie vorausgesagten Lichtablenkung im Schwerefeld der Sonne bei einer Sonnenfinsternisexpedition im Jahre 1919, als man Einstein nicht nur weltweit sondern auch in Deutschland feierte, blieb er auf Distanz zu einem Land und seinen wissenschaftlichen Institutionen, das außerstande war, ihn vor antisemitischen Anfeindungen und Bedrohungen zu schützen. “Ich bin ihnen eine stinkende Blume und sie stecken mich doch immer wieder ins Knopfloch,” schrieb er 1925 in ein Reisetagebuch. Keiner, der sich auf Einstein beruft, sollte diese unbequeme Bemerkung Einsteins vergessen, der 1933 zur Emigration aus Deutschland gezwungen wurde.

Im Zentrum des von zahlreichen Nobelpreisträgern unterschriebenen Aufrufs zu einem internationalen Einstein-Jahre stehen daher die Anliegen, die für Einstein selbst zentral waren, sein Einsatz für den Frieden und für Wissenschaft als Menschheitsaufgabe und –besitz.

Mit Blick auf beide Dimensionen seines Engagements stehen wir heute vor neuen Herausforderungen. Denn es ist inzwischen noch mehr als zu Einsteins Zeiten deutlich geworden, daß sich die globalen Probleme der Menschheit nur durch mehr Wissen lösen lassen werden, Wissen, das sich nur auf dem Wege einer Entfaltung freier Wissenschaft und insbesondere der Grundlagenforschung erwerben läßt. Wie aber über dieses Wissen verfügt wird und wie es zugänglich gemacht wird, ist damit ebenfalls zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden.

Für mich jedenfalls ist auch dieser Venustransit nicht nur ein astronomisches sondern auch ein politisches Ereignis im Vorfeld des internationalen Einstein-Jahres 2005, von dem ich mir einen wichtigen Beitrag zur Stärkung dieses Problembewußtseins erwarte, vielleicht auch dadurch, daß möglichst viele der Dokumente, die Einstein uns hinterlassen hat, frei im Internet verfügbar gemacht werden.